Wenn das runde Leder durch die Luft fliegt, unbeirrt über Köpfen hinweg oder zwischen Beinen hindurch seine Bahn zieht und unter lautem Jubel der Zuschauer im Netz versinkt, das ist fast schon Poesie. Und seit „Spiegel Sport“ die Empfindungen rund um das Fußballspiel mehr oder weniger launig in gereimter Form in Worte fasst, hat so mancher Fußballfan eine neue Beziehung zur Dichtkunst gefunden.

Vom Knüttelvers, der sich mit den Bundesliga-Quoten befasst (bei eins zu vier, da lacht man für, bei eins zu acht war’s gute Nacht) bis zu humorvollen Reimen, die eines Heinz Erhard würdig wären, bewegen Fußballgedichte die Gemüter und regen zum Zitieren oder gar selber  zum dichten an.

Dabei sind die besten Gedichte meist Denkanstöße oder das Feiern von kleinen und lustigen Momenten, die aus einem spannenden Match eine Partie machen, die selbst in Jahrzehnten unvergessen bleibt. So kann man zum Beispiel Gedichte über ein Spiel schreiben, das mit großem Vorsprung gewonnen wurde oder Wetten, bei denen die schwächere Mannschaft tatsächlich doch noch gewonnen hat. Sepp Maiers legendäre Entenjagd hat es in gedichteter Form in den „Spiegel“ geschafft und damit Generationen dazu gebracht, sich über diesen Meilenstein in der deutschen Fußballgeschichte zu informieren und schmunzeln.

Der dadurch unsterblich gewordene Vogel hatte im Mai 1976 die Idee gehabt, mal kurz während des Spiels Bayern München gegen den VfL Bochum im Olympiastadion vorbeizuschauen. Mit drei zu null für den Gastgeber war das Spiel kurz vor Schluss so gut wie gelaufen und Torhüter Maier hatte nicht allzu viel zu tun. Bis sein Blick auf eine Ente fiel und er sich mit einem Hechtsprung auf sie zustürzte. Die Ente flatterte in letzter Sekunde aus der Reichweite der „Katze von Ansing“, und die 26.000 Zuschauer erlebten einen der lustigsten Momente im Fandasein. Maier konnte sich nach seinem Duell mit dem Flattertier bis zum Abpfiff wenige Minuten später in seinem Tor ausruhen, während sein Teamkollege Gerd Müller dem VfL noch einen Elfmeter ins Netz jagte. Die Ente ist im Olympia-Stadion nie wieder gesichtet worden, aber dank Reportern, Filmclips und eben auch dem Spiegeldichter, der ihr 2019 erneuten Ruhm beschert hat, wurde sie zum Star. Bälle hat Maier jede Menge abgefangen, und seine Hechtsprünge waren eines seiner Markenzeichen, aber mit einer echten Ente bekam es der legendäre Keeper halt nur das eine Mal auf dem Spielfeld zu tun.

Poesie, die unter anderem dank Literaten wie Goethe und Schiller Deutschland den Ruf als Land der Dichter und Denker beigebracht hat, hat in der Moderne keinen leichten Stand. Vielleicht liegt es an den eigenen Vorurteilen und Ansprüchen, wie wahre Dichtkunst auszusehen hat. Ein paar Strophen über Sepp Maier und seine Entenjagd über das Foul von Stürmer Paul, das Spiel Deutschland gegen Spanien oder einige Worte über „das Eigentor, das stand ihm noch bevor“ sind schließlich kaum mit Schillers „Lied der Glocke“ oder Goethes „Erlkönig“ zu vergleichen – oder?

Jedoch erlebt die Poesie ein Comeback. Kaum eine andere literarische Form bietet so viel Freiheit wie die Lyrik. Gereimt oder ungereimt, in Halbsätzen, Wortfetzen werden Gefühle und Gedanken ausgedrückt, die aufrütteln, bewegen, zum Weinen und zum Lachen bringen können. Die amerikanische Poetin Maya Angelou, deren Werke mittlerweile zum Kulturgut ihres Heimatlandes gehören, hat in ihren Gedichten schonungslos die zahlreichen Traumata verarbeitet, die sie in ihrer Kindheit und Jugend erlitt. Ihre Poesie wurde für die farbige Südstaatlerin zur Therapie, so wie auch ungezählte ihrer Leser und Leserinnen sich selbst und ihre Wunden in den ausdrucksstarken Worten wieder erkannt haben.

Das Schreiben von Gedichten findet allmählich auch im Alltag wieder einen Platz, aber unbewusst haben viele Menschen das Festhalten von Ideen, Gefühlen und Gedanken schon seit Generationen dafür benutzt, sich zu erleichtern oder Klarheit zu verschaffen oder Geheimnisse aufzuschreiben, die ihnen sonst die Luft genommen hätten. Tagebücher, die einem helfen, sich alles von der Seele zu schreiben, schöne Erinnerungen festzuhalten, die sonst allzu rasch im hektischen Alltag in Vergessenheit geraten. Gründe, zu Stift und Papier oder zur Notizenfunktion auf dem Handy zu greifen, gibt es viele. Besonders wenn es Themen sind, die eine große Rolle im Leben spielen, wird darüber geschrieben.

Wer Dinge schwarz auf weiß aufgelistet sieht, kann sie umordnen, eine neue Perspektive finden oder sogar Abstand von den eigenen Problemen finden. Wer statt in der Ich-Form in der dritten Person über sich selbst schreibt, schafft automatisch Distanz. Dabei geht es nicht darum, einen Literaturpreis zu gewinnen, sondern etwas auszudrücken, was einen bewegt. Das ist heute nicht anders als zu Zeiten antiker Dichter wie Ovid und Homer, Minnesängern aus dem Mittelalter wie Walther von der Vogelwalde, Dramaturgen und Dichtern wie dem unsterblichen Shakespeare oder dem Lyriker Bertolt Brecht, der mit seinen Werken die Theaterwelt des 20. Jahrhunderts für immer verändert hat.

Kein Thema ist zu gewaltig oder zu unwichtig, um in Worte gefasst zu werden. Vom Rapper, der seine Geschichte erzählt, bis zum Hobbygärtner, der in der Volkshochschule seine Erfahrungen im Kleingarten aufarbeitet, legen Gedichte ein Stück Seele frei. Selbst wenn es nur darum geht, in einem Zweizeiler die Frustration über das verlorene Freundschaftsspiel oder den Jubel über den umgewandelten Freistoß festzuhalten und aufzuarbeiten. Schließlich war es fast schon Poesie, wie der Ball durch die Lüfte flog.

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