Ich hatte ehrlich gesagt riesige Angst vor dieser Reise, denn Warschau ist die Stadt, an deren Einwohner die schlimmsten Verbrechen der Menschheit begangen wurden. In den wenigen Jahren des 2. Weltkrieges starben etwa 6 Millionen Polen, davon 5,7 Millionen aus der Zivilbevölkerung. Ganz Warschau wurde am Ende dem Erdboden gleich gemacht und was bis dahin alles passierte, geht mir näher als ich es je in Worte fassen könnte. Das Warschauer Ghetto, der Warschauer Aufstand, die hundert tausenden Deportationen der jüdischen Bevölkerung oder das Massaker von Wola, bei dem zwischen 5. und 7. August 30.000 Menschen exekutiert wurden. Bis 12. August waren es 50.000 Menschen, Kinder, Mütter, Väter, die ihr Leben lassen mussten.
Das Wissen darüber, was passiert ist
Das Hotel in dem ich gerade diese Zeilen schreibe, liegt ebenfalls im Warschauer Ghetto. An genau dieser Stelle wurden vor 80 Jahren mit ziemlicher Sicherheit tausende Menschen bis zum Tode gequält und ermordet. Mit all dem Wissen und all den Bildern der unzähligen Dokumentationen die ich gesehen habe, hatte ich Angst, dass wenn ich persönlich an diesen Orten stehe, ich das einfach nicht verkrafte. Vor meinem inneren Auge sehe ich die unzähligen leblosen Körper am Boden des Ghettos, abgemagerte Kinder, Frauen die vor ihren Kindern erschossen werden und umgekehrt, brennende Häuser und Menschenberge von Toten, die einfach herumliegen oder verbrannt werden. Diese Bilder prägen sich ein und das ist gut so – denn nur wenn man weiß und versteht was hier passiert ist, kann man auch nachvollziehen, wieso die Erklärung der Menschrechte von 1948 bis heute so wichtig ist:
Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.
Artikel 1 der Erklärung der Menschenrechte
Am Ort des Geschehens
Und so war ich heute an all den besagten Orten. Am Denkmal des Warschauer Aufstandes, der Mauer des Warschauer Ghettos (die ich aus meinem Hotelzimmer sehe), am Umschlagplatz, am Grab des unbekannten Soldaten, im Museum der Geschichte der polnischen Juden, an den Ghetto Gedenkmarkierungen und am Wahrschauer Ghetto Ehrenmal, an dem Willy Brandt 1970 auf die Knie ging, als Zeichen der Demut und Entschuldigung. Es hat mich nicht kalt gelassen und so war ich im regnerischen Warschau, beim Gedanken an die Millionen Verstorbenen, nicht nur einmal kurz den Tränen nahe.
Die Stadt Warschau lebt
Es gibt aber auch eine gute Sache. Die Stadt wurde wieder aufgebaut – und wie. Sie präsentiert sich modern mit riesigen Wolkenkratzer, einem tollen öffentlichen Verkehrsnetz, schönen Parks und Museen und mit Menschen, die positiv, freundlich und selbstbewusst durch die Stadt gehen. Die Stadt Warschau lebt und ist wunderschön. Die Menschen haben irgendwie weitergemacht. Sie haben keinesfalls vergessen – aber sie haben, wie auch immer dies möglich war, verziehen.
Niemals vergessen
Gerade in diesen Zeiten, in denen wieder Kriege geführt werden und Menschen Populisten wählen, die wie damals der Meinung sind, dass bestimmte Menschen mehr wert sind als andere – wäre eine Reise nach Warschau oder die Beschäftigung mit der Geschichte so unfassbar wichtig. Wenn ich eines aus diesem ersten Tag mitnehme – dann ist es, dass es so ein unfassbares Leid nie mehr in der Menscheitsgeschichte geben darf.
Es ist so dumm, aber einen Schritt vom Tod entfernt, mache ich mir Sorgen um mein Tagebuch… Ich möchte nicht, dass es nutzlos auf einem Müllhaufen endet. Ich möchte, dass jemand, sei es auch ein Deutscher, es findet und liest. Ich möchte, dass diese Gekritzel, die weniger als ein Hundertstel der tatsächlichen Grausamkeit enthalten, eines Tages als wahre und treue Aufzeichnung unserer Zeit stehen. Aber wirklich, wenn ich sterbe, warum sollte es mich kümmern?”
Miriam Chaszczewacka (geboren 1924) Do. 22. September 1942 aus dem Warschauer Ghetto
Man bleibt mit dem tragischen Dilemma zurück: Sollen wir jedem nur ein Löffelchen geben, was zur Folge hat, dass niemand überleben wird? Oder sollen wir einigen die volle Menge geben – und nur eine Handvoll hat genug, um zu überleben?
Emmanuel Ringelblum, Mai 1942, Notizen aus dem Warschauer Ghetto
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